Interview mit Julia Klöckner

3. Januar 2016

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

FRAGE: Frau Klöckner, wie geht es 2016 weiter mit den Flüchtlingen? Welche Bilanz werden wir zum nächsten Jahreswechsel ziehen?
ANTWORT: Wenn ich das wüsste, könnte ich die Horoskopspalte bestücken! Was ich mir wünsche: Dass man am Jahresende sagen wird, wir haben die Integration der Flüchtlinge erfolgreich angeschoben. Wir haben Europas Außengrenzen gesichert, Flüchtlingskontingente über die Länder verteilt, Fluchtursachen besser bekämpft, den Bürgerkrieg in Syrien entschärft. Und in Deutschland sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt noch weiter gestiegen, nicht nur für Flüchtlinge, sondern für alle Menschen.

FRAGE: Wird uns die Aufnahme der Flüchtlinge am Ende mehr kosten oder mehr nützen?
ANTWORT: Von der Globalisierung, die jetzt in Form der Flüchtlinge an die Tür klopft, haben wir als Exportweltmeister in der Vergangenheit enorm profitiert. Das gehört zur Gesamtbilanz. In der Gegenwart entstehen jetzt erst mal Kosten. Wir zahlen für Unterbringung, Wohnungsbau, Integrationskurse. Langfristig sieht es hoffentlich anders aus. Wenn wir die Integration richtig angehen, dann können uns die Flüchtlinge helfen, den Fachkräftemangel und den demographischen Wandel besser zu bewältigen.

FRAGE: Wovon hängt es ab, ob das gelingt?
ANTWORT: Von der Weltlage, von Europa, von uns selbst. Wir dürfen uns nicht überfordern, deshalb brauchen wir eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Und wir müssen Integration konsequent organisieren und einfordern. Eines haben wir schon gewonnen: Wir sind mit den vielen Ehrenamtlichen und Kommunalen über uns selbst hinausgewachsen. Wir sind gefordert, stärker über uns selbst nachzudenken, was uns wichtig ist. Weltweit hat unser Land an Image gewonnen. Nicht selbstverständlich nachdem unsägliche Bilder deutscher Politiker mit Nazivergleichen von Griechenland aus um die Welt gingen.

FRAGE: Wie verhalten sich in der Flüchtlingsfrage ökonomisches Kalkül und christliche Hilfsbereitschaft?
ANTWORT: Christliche Nächstenliebe oder ethisch motivierte Mitmenschlichkeit leiten uns, es sind ja nicht nur Christen, die in unserem Land mit anpacken. Beim Asylrecht geht es erst einmal ums Helfen. Es ist ein wichtiges Zeichen, dass wir Verantwortung übernehmen. Wir bekommen auch etwas zurück, Vitalität in einer alternden Gesellschaft. Aber das ist erst der zweite Schritt. Wenn es nur um die Einwanderung von Arbeitskräften ginge, hätten wir sie uns nach anderen Kriterien ausgesucht, das Asylrecht fragt nicht nach unserem Nutzen, sondern nach der Fluchtursache. Wir müssen aus der Situation das Beste machen.
FRAGE: Das heißt, für die Arbeitskräfte brauchen wir ein Einwanderungsgesetz?
ANTWORT: Zunächst: Wie können wir diejenigen, die in großer Zahl zu uns kommen und bleiben, zu Arbeitskollegen machen? Das wird kein Spaziergang, Unter den Erwachsenen sind ja viele Analphabeten. Erstaunlich, wie viele Wirtschaftsvertreter da sagten: Die Flüchtlingsbewegung sei ein Segen. Sie haben darunter wahrscheinlich verstanden: Wir holen uns die Besten, um den Rest
kümmert sich der Staat. Das wäre Rosinenpickerei. Der Qualifizierungsdruck auf diejenigen, die schon hier sind, aber auch auf die Wirtschaft, darf aber nicht nachlassen. Wir sind hier alle gefragt. Ich denke, darauf muss der aktuelle Fokus liegen. Die Bündelung der bestehenden Reglung zu einem verständlichen Einwanderungsgesetz wird uns danach beschäftigen.
FRAGE: Die Wirtschaft muss jetzt liefern?
ANTWORT: Zum Teil geschieht das ja. Der rheinland-pfälzische Hotel- und Gaststättenverband oder die Kammern haben sich verpflichtet, zahlreiche Ausbildungsplätze für Flüchtlinge anzubieten.
FRAGE: Ist die Angst gering qualifizierter Einheimischer berechtigt, dass eine neue Konkurrenz um Jobs entsteht?
ANTWORT: Ob sie berechtigt sind oder nicht, die Ängste sind da. Das sollten wir ernst nehmen. Auch die Konkurrenz um günstigen Wohnraum, den wir gerade in den Städten erleben. Deshalb ist es die Aufgabe von uns Politikern, jeden, der Unterstützung braucht, im Blick zu haben.
FRAGE: Gibt es einen Punkt, wo Sie sagen: Wir können keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, weil wir es nicht mehr bezahlen können?
ANTWORT: Wenn wir die Flüchtlinge nach unseren Standards menschenwürdig unterbringen und erfolgreich integrieren wollen, werden wir nicht auf Dauer so viele Menschen aufnehmen können. Das sagt der gesunde Menschenverstand. Weil wir dazu Zeit, Wohnraum, Ressourcen brauchen, die irgendwann erschöpft sind.
FRAGE: Was bedeutet erfolgreiche Integration, auch in wirtschaftlicher Hinsicht?
ANTWORT: Gerade auf dem Arbeitsmarkt kann erfolgreiche Integration nicht funktionieren, wenn jemand unsere grundlegenden Werte und aufgeklärte Kultur nicht teilt und zum Beispiel eine Frau als Chefin oder einen homosexuellen Kollegen ablehnt. Da ist der Neuankömmling genauso gefragt wie der aufnehmende Staat. Beide Seiten müssen sich hier gegenseitig verpflichten.
FRAGE: Wozu zum Beispiel?
ANTWORT: Wir brauchen mehr Sprach- und Integrationskurse, mehr Erzieherinnen und Lehrer. Mit der jetzigen Ausstattung ist eine nachhaltige Eingliederung nicht zu machen.
FRAGE: Woher kommt das Geld?
ANTWORT: Diese Investition müssen wir uns jetzt leisten, sonst wird es in der Zukunft noch viel teurer. Und die Bundesländer müssen die Kommunen von den Flüchtlingskosten vollständig entlasten, das macht Rot-Grün in Rheinland-Pfalz leider nicht und bestraft diejenigen, die ihre Aufgaben gut erfüllen, weil sie sich dafür verschulden müssen.
FRAGE: Solidarität bedeutet, dass sich niemand für die Flüchtlinge einschränken muss?
ANTWORT: Es wäre ein großer Fehler, uns wegen der Flüchtlinge um die Sorgen der einheimischen Bevölkerung weniger zu kümmern. Das würde die Akzeptanz gefährden.

FRAGE: Und was sollen die Flüchtlinge für die Integration tun?
ANTWORT: Sie müssen verstehen, dass sie nicht einfach so in einem wertneutralen Gesellschaftssystem landen. Integration ist nicht die Addition von Vielfalt oder Larifari-Multikulti. Deutschland ist so erfolgreich, weil wir ein welfoffenes, aufgeklärtes Land sind, in dem unsere Grundwerte nicht zur Disposition stehen. Zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Einwanderer müssen akzeptieren, dass auch mal der Vater auf ein Kind aufpassen kann, während die Mutter im Sprachkurs ist. Die Familienehre hängt bei uns auch nicht von der Sexualität der Tochter ab, Mädchen nehmen bei uns am Schwimmunterricht und an Klassenfahrten teil, ob dass in die religiöse Überzeugung passt oder nicht.
FRAGE: Wie konservativ dürfen Flüchtlinge sein?
ANTWORT: Konservativ ist etwas anderes als eine religiös-fundamentalistische Haltung, die mancher aus einem patriachalisch geprägten Land mitbringt, das keinen Rechtsstaat kennt! Es ist ein Unterschied, ob in Deutschland die Frauen noch nicht in allen Führungsetagen angekommen sind. Oder ob jemand einer Frau die Hand nicht gibt, weil er sie für unrein hält oder glaubt, Frauen müssten sich vollverschleiern.
FRAGE: Wie oft haben Sie in Rheinland-Pfalz schon eine Burkaträgerin gesehen?
ANTWORT: Die Qualität eines Menschenbildes hat nichts mit der Quantität der Erscheinung zu tun. Normen und Gesetze richten sich nicht nach Häufigkeiten, sondern nach Überzeugungen.
FRAGE: Bis 1973 stand Homosexualität in der Bundesrepublik unter Strafe.
ANTWORT: Gut, dass wir das vor rund 40 Jahren hinter uns gelassen haben. Das sollte auch nicht wieder zur Debatte stehen. Jetzt verteidigen aber ausgerechnet Leute, die für eine gendergerechte Sprache eintreten, die Vollverschleierung von Frauen als Ausdruck kultureller Vielfalt. Wo bleiben in dieser Debatte die linken Vorkämpferinnen der Frauenrechte?
FRAGE: Sie verlangen mehr Genderpolitik?
ANTWORT: Ich verlange Logik, frei von Ideologie. Wie kann man sich für Frauenquote und „Equal Pay“ einsetzen, aber ein Auge zudrücken, wenn Frauen auf unserem Boden unterdrückt werden, begründet durch die Kultur? Das ist keine Toleranz, sondern Ignoranz.
FRAGE: Wo ziehen Sie die Grenze?
ANTWORT: Gleiches Recht für alle. Man kann sicher nicht einfach einen Schalter umlegen. Aber wer zu uns kommt, muss wissen, dass er sich auch umstellen muss.
FRAGE: Wie soll das praktisch funktionieren?
ANTWORT: Schon in der Erstaufnahme sollten wir jedem Flüchtling unsere Hausordnung aufs Kopfkissen legen, was uns wichtig ist, was der Grund für unsere Hilfsbereitschaft ist, zum Beispiel unser Menschenbild, Religionsfreiheit, Rechtsstaat. Wenn ein Flüchtling seine Wohnung in einer Kommune bekommt, sollten wir mit ihm eine Integrationsvereinbarung schließen. Er weiß, zu was sich der Staat verpflichtet, umgekehrt gibt es für ihn auch Pflichten. Und schließlich brauchen wir Sanktionen, wenn jemand die angebotenen Kurse nicht besucht, da geht es nicht nur um Integrationskurse, von denen wir übrigens noch viel zu wenig haben.

FRAGE: Woran wollen Sie messen, ob jemand zum Beispiel die Gleichberechtigung der Frau respektiert?
ANTWORT: Ums Messen geht es nicht. Fehler der Vergangenheit müssen vermieden werden. Es einfach laufen zu lassen wäre Gift fürs Zusammenleben. Es muss von Anfang an klar sein, dass wir bestimmte Dinge nicht durchgehen lassen. Wenn ein Vater nicht mit einer Lehrerin spricht, weil sie eine Frau ist, sollten wir dann nicht den Weg des geringsten Widerstands gehen und einen männlichen Lehrerkollegen schicken.
FRAGE: Gehören zur Integration auch kulturelle Werte jenseits der Verfassung, Riesling und Saumagen zum Beispiel?
ANTWORT: (Lacht) Ich gönne jedem den Genuss von beidem, das sollte aber schon jeder selbst entscheiden. Zumindest sollten wir nicht vorauseilend den Weihnachts- in Sternschnuppenmarkt und das St. Martins- ins Lichterfest umbenennen, nur um die religiösen Gefühle von Andersgläubigen zu schonen. Das heißt nicht, dass wir uns nicht von neuen Einflüssen bereichern lassen. Aber viele Einheimische wollen sich in unserem Land nach wie vor zu Hause fühlen.
FRAGE: Die Kanzlerin sprach neulich von einer „Sehnsucht nach Vielfalt“ in der deutschen Bevölkerung. Gibt es die?
ANTWORT: Klar. Das sehen wir doch in der Familie, in der Arbeitswelt, in der Freizeit: Patchworkfamilien, Arbeitszeitmodelle, Väter, die mit den Kindern zu Hause bleiben, vielfältige Reiseziele, die ganze Welt auf unseren Speisekarten. Deutschland ist ein Land der Vielfalt, aber auch ein Land mit klaren Grundüberzeugungen.
FRAGE: Welche Stimmung zu den Flüchtlingen erleben Sie im Wahlkampf?
ANTWORT: Unterschiedliche. Ich war gerade in einer Kirchengemeinde, bei einer Benefizveranstaltung für Flüchtlinge. Berührend. Daneben gibt es Leute mit Ängsten, andere tun sich mit jeder Art von Veränderung schwer. Wieder andere brüllen mit versteinertem Herzen ihre Parolen. Im Ganzen dominiert aber ein großes Maß an Pragmatismus und Offenheit.)
FRAGE: Sie sagen, für eine erfolgreiche Integration auf dem Arbeitsmarkt muss die Zahl der Flüchtlinge sinken. Wie wollen Sie das machen?
ANTWORT: Europa muss gemeinsam helfen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Zudem geht um die europäische Grenzsicherung, Flüchtlingskontingente, Entwicklungszusammenarbeit – aber auch darum, Bürgerkriege mit diplomatischen und notfalls militärischen Mitteln einzudämmen. Wir müssen über eine gemeinsame europäische Armee nachdenken, an deren Finanzierung alle Länder beteiligt sind. Die Ausstattung der Bundeswehr ist auf Kante genäht, für andere Armeen gilt das ebenfalls. Einfach nur die Kapazitäten der nationalen Truppen zusammenzuzählen, ergibt noch kein großes Ganzes. Europa muss sich wieder stärker als gemeinsames Projekt verstehen.
FRAGE: Macht die Kanzlerin eigentlich alles richtig für eine Flüchtlingspolitik, die auch wirtschaftlich erfolgreich ist?
ANTWORT: Gibt es Menschen, die immer alles richtig machen? Das ist ein Prozess, in dem alle täglich dazulernen. Die Kanzlerin hat Mut bewiesen. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir uns manchmal schnellere Lösung wünschen. Aber Angela Merkel ist die Kanzlerin von Deutschland und nicht die Erziehungsberechtigte anderer Länder. Deshalb brauchen Verhandlungen manchmal Zeit.
FRAGE: Auf Ihre Idee einer Integrationspflicht ist die Kanzlerin jedenfalls nicht gekommen.
ANTWORT: Angela Merkel ist eine Führungsfigur im besten Sinne, die auch delegieren kann. Während sie sich als Parteivorsitzende um andere aktuelle Fragen gekümmert hat, habe ich mich als Stellvertreterin der Integrationsfrage gewidmet, die Passage für unseren Parteitagsantrag erarbeitet. Im Übrigen war es Angela Merkel, die schon vor Jahren die Integrationsbeauftragte ins Kanzleramt geholt und das Thema aufgewertet hat.
FRAGE: Um mehr oder weniger Skepsis in der Flüchtlingsfrage geht es dabei nicht?
ANTWORT: Wir beide wissen, dass die Integration so vieler Flüchtlinge ein Schlüsselthema ist.
Das Gespräch führte Ralph Bollmann (erschienen: FAS, 3. Januar 2016)

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